Dieser Satz der großen Theologin Dorothee Sölle begleitet mich schon seit Studienzeiten. In manchen Kirchen hängt ein Kruzifix, dass das bildlich zeigt, indem der Christus am Kreuz keine Arme hat. In Volkenroda und der Frauenberg-Kirche hängt so eines.
Und nun ist mir der Satz wieder begegnet. Ganz überraschend beim Abendgebet am letzten Kirchentags-Abend auf dem Opernplatz in Hannover. Hunderte, tausende Menschen stehen nach erfüllten Tagen und Nächten mit einer Kerze in der Hand dichtgedrängt auf diesem Platz. Vorn auf der Bühne spricht eine junge Frau aus, was sie glaubt. hofft und fragt. Unvergesslich für die, die dabei waren. Die Atmosphäre dieser Minuten kann man nicht mit Worten auf einer Seite Gemeindebrief wiedergeben, aber ich möchte die Worte von Lilly Blaudszun mit ihrer freundlichen Erlaubnis hier teilen und weitergeben. Vielleicht landen sie ja bei Ihnen – wie bei mir – am Kühlschrank oder neben dem Bett:
„Wir sprechen von Nacht. Aber wir meinen nicht nur den Himmel über uns. Wir meinen die Nacht, die diese Welt verdunkelt. Die Nacht in Gaza, in Charkiw, in Jenin. Die Nacht in Tel Aviv, wo Menschen um Frieden ringen, und Bomben lauter reden als Gebete. Die Nacht in Rafah, wo Sprache versagt und Tränen zu Flüssen werden. Die Nacht an den Grenzen Europas, wo Kinder weinen hinter Stacheldraht, und das Meer mehr Gräber birgt als Boote. Die Nacht in unseren Städten, wo Menschen unter Brücken frieren, während Paläste blenden. Die Nacht auf unserer Erde, die wir verletzen, Tag für Tag.
DIESE Nacht ist nicht Gottes Nacht. Diese Nacht ist menschengemacht. Gewoben aus Angst, aus Gleichgültigkeit, aus einem Vergessen, das tödlich wird. Gott hat LICHT gesprochen, am Anfang und heute: „Es werde Licht!“
Und wir? Wir reden Mauern. Wir reden Angst. Wir reden Abschottung. Doch diese Welt bleibt Gottes Welt. Nicht unsere Festung. Nicht unser Eigentum. Nicht unser Recht – sondern Gottes Geschenk.
Dorothee Sölle sagte: „Gott hat keine anderen Hände als unsere.“ Und ich frage: Wo sind unsere Hände heute Nacht? Sind sie geöffnet – oder haben sie sich abgewandt?
Glauben heißt nicht: sich wegträumen. Glauben heißt: wach bleiben. Glauben heißt: hinhören, wenn andere schweigen. Glauben heißt: den Schrei der Erniedrigten hören – lauter als den Jubel der Sieger.
Wenn du müde bist heute Nacht – dann sei müde. Aber werde nicht gleichgültig. Wenn du betest – dann bete nicht um deine Ruhe allein. Bete um offene Augen. Bete um Mut zum Aufbruch. Bete um eine Unruhe, die sich nicht mit falschem Frieden abspeisen lässt.
Gott hat keine anderen Füße als unsere, die Wege gehen, wo andere Mauern bauen. Keine anderen Herzen, als die, die heute Nacht schlagen für eine Welt, die gerechter sein soll als die, die wir vorfinden.
Deshalb spreche ich dir zu: Sei Licht. Sei Salz. Sei Hoffnung. Sei die Stimme derer, die keine Stimme haben. Wage Liebe, wo Angst regiert. Wage Hoffnung, wo Resignation wohnt. Wage Frieden, wo Hass die Macht übernommen hat.
Denn auch die Nacht ist Gottes. Auch diese schwere, zerbrochene Nacht. Und sie kennt kein Ende, das nicht Morgen heißt. Ein Morgen, das Gott ruft. Ein Morgen, an dem wir mittun dürfen. Amen.“
Kommen Sie gut durch die Nächte und Tage dieses Sommers!
Bleiben Sie behütet – und behüten Sie andere!
Wolf-Johannes v.Biela